Neustadt am Main


 

GESCHICHTE
Neustadt am Main – zwischen König und Bischof

Würzburgs zweiter Bischof Megingoz verzichtete vermutlich im Jahr 768 auf sein Amt und zog mit einigen Getreuen in den am Mainviereck westlich von Karlstadt gelegenen Ort „Rorinlacha“. Um das Jahr 770 gründete er dort das Benediktinerkloster Neustadt. Da er es direkt dem Schutz Karls des Großen unterstellte, nimmt man an, dass der Frankenkönig an der Gründung ebenfalls beteiligt war. Spätestens 794 war Neustadt eine königliche Abtei. Der König förderte das Kloster und stattete es mit großen Gebieten im Spessart aus. Neustadt war damals eng mit dem älteren Königskloster Amorbach verbunden; häufig wurden in karolingischer Zeit beide Klöster vom gleichen Abt geleitet. Auf Geheiß Karls des Großen arbeiteten die beiden Abteien in der Missionsarbeit im sächsischen Verden an der Aller intensiv zusammen. Drei Äbte aus Neustadt bzw. Amorbach waren auch Bischöfe in diesem Missionsbistum.

Im Jahr 993 gelang es dem Würzburger Bischof Bernward von Rotenburg (reg. 990–995) die Abtei Neustadt mithilfe von Urkundenfälschungen zu einem bischöflichen Eigenkloster zu machen. Fortan baute Würzburg seinen Einfluss systematisch aus. So gestatteten die Bischöfe den Herren von Grumbach als den Vögten des Klosters Neustadt im 12. Jahrhundert die Erbauung der Zwingburg Rothenfels. Die Grafen von Rieneck rissen als Nachfolger in der Vogtei viele der altüberlieferten Rechte des Klosters an sich. Neustadt wehrte sich und versuchte bis in das 13. Jahrhundert hinein vergeblich mittels eines auf das Jahr 794 gefälschten Privilegs Karls des Großen seine reichsunmittelbare Stellung wieder zu erlangen.

Bezeichnenderweise übernahm das Kloster damals zusätzlich das Patrozinium des hl. Martin, des alten fränkischen Reichsheiligen. Daran erinnern mehrere Steinreliefplatten aus dem 12. Jahrhundert, die einst als Chorschranken gedient haben. Für das Jahr 1262 ist in Neustadt ein Konventsiegel belegbar, das die Hauptpatronin des Klosters, Maria, zwischen Karl dem Großen und dem hl. Martin zeigt. Die Erinnerung an diesen Reichspatron wie auch der Verweis auf den Kaiser unterstützten somit den Versuch, die verlorene reichsunmittelbare Stellung wieder zu erlangen.

Eine besondere Rolle spielte dabei die hl. Gertrud, angeblich des Kaisers Schwester. Dabei hatten die geistlichen Urkundenfälscher die von ihnen beanspruchte Gertrud mit der Tochter Pippins des Älteren verwechselt, die aber bereits 659 als heilige Äbtissin von Nivelles gestorben war. Jedenfalls zeigten die Benediktiner in Neustadt einen „Mantel der hl. Gertrud“ als besondere Reliquie. Längst weiß man, dass dieser Mantel erst im 12. bzw. 13. Jahrhundert entstanden sein kann. Hartnäckig baute Neustadt um den Kult der hl. Gertrud eine „Legende“ auf und schuf viele Stätten ihrer Verehrung: In Karlburg soll sie ein Kloster gegründet haben, man wies eine Gertrudenquelle vor und eine ihr geweihte Kapelle bei Waldzell. In der Kapelle auf dem Michaelsberg sollen sich der Überlieferung nach die Spuren von Ellbogen, Knien und Füßen Gertruds erhalten haben. 1677 wurde diese Kapelle dem Kloster Neustadt inkorporiert, das seinerseits eine Wallfahrt auf den Spuren der Heiligen, die bis um 1750 beispielsweise von der Würzburger Pfarrei St. Gertraud gepflegt wurde, intensiv zu fördern verstand.

Im 11. Jahrhundert schlossen sich die Benediktiner von Neustadt der Gorzer Reform an und im 12. Jahrhundert der Reformbewegung von Hirsau. Solche Anstrengungen lassen auf innere Differenzen schließen. Diese Schwächen nutzten die Würzburger Bischöfe geschickt aus, um ihren Einfluss weiter zu vertiefen. 1343 konnte auf diese Weise dem Kloster Abt Syfrid von St. Burkard in Würzburg als Administrator aufgezwungen werden; ohne Erfolg allerdings, da sich die Mönche gegen dessen Versuche, die klösterliche Zucht zu straffen, wehrten.

Je nach Interessenlage und Machtverhältnissen zwischen Kaiser und Bischof gelang es Neustadt sich von Würzburg zu lösen oder es musste sich diesem beugen. Kaiser Karl IV. (reg. 1355–1378) förderte das Kloster. Er befreite es vom Würzburger Landgericht und verlieh ihm einen Mainzoll, da er dessen Territorium für seine Landbrücke nach Böhmen benötigte.

Trotz ständiger Kämpfe nach innen und außen gelang es der Abtei Neustadt im Lauf der Jahre ihren Einfluss in der Region auszubauen und ein großes Landgebiet mit zugehörigen Rechten zu erwerben. Zeichen dafür sind auch die beiden Propsteien: Einsiedel im Spessart, gegründet 1164, und Retzbach am Main, gegründet 1336. Dort oblag den Benediktinern zudem die Seelsorge der Wallfahrt zur „Maria im Grünen Tal“.

In die Regierungszeit von Abt Jodok Steigerwald (reg. 1513–1534) fiel die Plünderung durch die aufständischen Bauern im Jahr 1525. Die Verwüstungen waren so heftig, dass die Abteikirche 1534 neu geweiht werden musste. Unruhig war auch die Zeit der Reformation. Zwar konsolidierte sich die Lage unter Abt Conrad Lieb (reg. 1534-1555) zunächst. Dessen Nachfolger, Abt Johann Fries, trat jedoch zu Luthers Lehre über. Als Reaktion griff Fürstbischof Friedrich von Wirsberg (1558–1573) noch im Jahr seiner Wahl hart durch und ließ alle Urkunden des Klosters nach Würzburg schaffen. Neustadt war damit jede Möglichkeit entzogen, sich juristisch gegen das Bistum zu wehren. Fürstbischof Julius Echter (reg. 1573–1617) konnte daher den Abt Martin Knödler, der sich 1615 aus finanziellen Gründen weigerte, eine neue Kirche zu erbauen, einfach absetzen. Tatsächlich wurde die Abteikirche zwischen 1616 und 1623 stark umgebaut. Schiff und Türme wurden erhöht und der Chor neu errichtet.

In den Folgejahren blühte das Kloster auf und 1629 konnte Murrhardt von Neustadt aus wieder mit Benediktinermönchen besetzt werden. In der Zeit der schwedischen Besatzung in Franken gelangte Neustadt von 1632 bis 1634 an den schwedischen Geheimsekretär Laurentius Gubben von Nabben. Während des Dreißigjährigen Kriegs wurde die Abtei 1633, 1636 und 1648 dreimal geplündert. Von diesen materiellen Schäden und von einer Pest-Epidemie, die im Jahr 1635 sechs Mönche hinwegraffte, erholte sich Neustadt erst spät. Deshalb kam es nicht zu einer durchgreifenden barocken Erneuerung von Kloster und Kirche.

Mit ursächlich dafür war auch, dass es erst in der Regierungszeit von Abt Benedikt Lurz (reg. 1764–1788) gelang, die Grundlagen für die Beilegung der seit Jahrhunderten währenden Streitereien mit Würzburg beizulegen.

Der letzte Abt Johann Weigand (reg. 1788–1803) führte das Kloster geschickt durch die Franzosenkriege. Er musste jedoch erleben, wie die Abtei 1803 säkularisiert und 19 Patres und zwei Novizen des Ortes verwiesen wurden. Die ehemalige Abtei erhielt Fürst Konstantin von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg als Entschädigung für andere Verluste übertragen.

1857 brannten Kirche und Klostergebäude durch einen Blitzschlag ab. Während die Kirche wieder errichtet wurde, wurden die übrigen Ruinen abgetragen. 1961 entstand auf dem alten Areal für die seit 1907 in Neustadt angesiedelten Missions-Dominikanerinnen ein neues Klostergebäude.

Trotz seiner frühen Bedeutung als Königsabtei wissen wir nur wenig über das Aussehen des Klosters in der Karolingerzeit. Von der ersten Kirche ist kaum mehr als das Weihedatum von 793 überliefert. Wichtigster Überrest des frühen Mittelalters ist die im 19. Jahrhundert weitgehend zerstörte Kapelle St. Peter und Paul nördlich der Abteikirche. Wahrscheinlich handelte es sich ursprünglich um eine kreuzförmige Anlage mit quadratischer Vierung und Turm darüber. Ähnliche Bauten kennen wir aus Pfalzel bei Trier und aus Mettlach. Eine im zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts erbaute kreuzgangartige Verbindung zwischen dieser Kapelle und der Abteikirche wurde im 19. Jahrhundert abgebrochen. Einige der verkauften Spolien konnten vor etlichen Jahren wieder erworben und an ursprünglicher Stelle eingebaut werden.

Die Abteikirche von Neustadt reicht bis zurück in das 12. Jahrhundert. Sie wurde aber nach dem Brand von 1857 nach Plänen des Architekten Heinrich Hübsch aus Karlsruhe im Geist der Neoromanik massiv überformt. Entstanden ist ein zwar architektonisch homogenes, gleichwohl geschichtsloses Gebilde. Ursprünglich handelt es sich bei der Kirche um eine kreuzförmige, dreischiffige und basilikale Anlage mit zwei Türmen in den Winkeln von Querhaus und Chor. Der Nordturm stammt aus dem 11. Jahrhundert und stand ehedem frei neben der Vorgängerkirche. Vor der Fassade im Westen ist eine Vorhalle anzunehmen, die zur Kirche in der ganzen Breite des Mittelschiffs geöffnet war. Das Langhaus umgreift acht Arkaden, deren Stützen einen „rheinischen“ Wechsel von Pfeilern und Säulen aufweisen. Ein Bogen von Pfeiler zu Pfeiler übergreift zudem jeweils zwei Säulenarkaden. Trotz der Erneuerungen des 19. Jahrhunderts zählt die Kirche zu den bedeutendsten Bauten der Romanik in der Umgebung.

Die Ausstattung der Kirche ist weitgehend neu bzw. aus Kirchen der Umgebung zusammengetragen. Erhalten haben sich vier Figuren vom barocken Hochaltar aus der Zeit um 1720 und das 1675 von Oswald Onghers geschaffene Hochaltarbild, Mariae Himmelfahrt darstellend. An den Wänden werden qualitätvolle Spolien der einstigen romanischen Chorschranken museal präsentiert. Zu den interessantesten Stücken zählen jene mit Darstellungen aus der Martinslegende: der hl. Martin zu Pferd, Martin und der Bettler, Martin als Bischof auf der Kathedra sitzend. Drei weitere Reliefs wurden in der Gotik überformt; sie stellen Maria mit dem Jesuskind, den hl. Martin und Karl den Großen als Gründer des Klosters Neustadt dar. Ein weiteres Relief im Mainfränkischen Museum Würzburg hat den Traum des hl. Martin zum Thema. Alle Arbeiten weisen eine gewisse stilistische Verwandtschaft mit den gleichzeitigen Reliefs in der einstigen Benediktinerpropstei Holzkirchen auf. Im Mainfränkischen Museum befindet sich außerdem ein romanischer Taufstein aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, der 1848 im Garten der ehemaligen Abtei gefunden wurde.

(Erich Schneider)



 

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